Nimm mir den Wind aus den Segeln!

„Ta de lugnt“ und „Lagom“

Die Bäume leuchten in ihren Herbstfarben, die Eichhörnchen jagen sich gegenseitig um die Baumstämme und sofern sie Zeit dafür finden, sammeln sie Flechten für ihr Winterquartier, die Maisen sind zurück und sind frech wie immer; sie klauen das Hühnerfutter aus dem Stall und als ob das nicht genug wäre, zupfen sie die Isolierwolle aus der Hütte und verteilen sie überall. 

Im Gegensatz zu den frechen Maisen ein braves Eichhörnchen,
das Baumflechten sammelt, um sein Winterquartier gemütlich zu machen.

Das ist aber alles nicht tragisch, denn mein neues Motto lautet: Ta de lugnt. Das ist der schwedische Ausdruck dafür, die Dinge leicht zu nehmen. Passend dazu habe ich mich ja bereits darauf eingelassen, dass Lappland im Moment – vorübergehend – einfach genau das Richtige ist; lagom, wie man hier sagen würde – nicht zu viel und nicht zu wenig, aber genau recht so. Also gehen wir es gemeinsam langsam an und nehmen es leicht…und das kam so:

Zu Beginn des Monats geben wir nochmal richtig Gas mit Brennholz, Preiselbeervorrat, Sauerkraut und Geburtstagsfeier. Die Ernte steht an. Bei Olof helfen wir regelmäßig mit und so gibt es wieder einen guten Vorrat an Kraut, Karotten und Kartoffeln. Nur selten taucht die Frage auf, inwiefern das alles Sinn ergibt. Noch steht es ja in den Sternen, wann es genau ab nach Kanada geht… also setzen wir alles daran, uns auf den Winter in Lappland vorzubereiten. 

Allerdings spüren wir, dass ein Umbruch stattfindet. Er macht sich nur leise bemerkbar und schleicht sich fast unbemerkt in unser Bewusstsein. Etwas ist im Wandel und bevor wir es noch richtig begreifen, wird aus unserer Wintervorbereitung eine Art Endspurt. Was zuerst nur eine vage Vermutung war, wird gegen Ende des Monats immer klarer: es wird wohl unser letzter Herbst in Schweden sein und wohl auch unser letzter Winter – Kanada hat die Grenzen geöffnet und zwar komplett, ohne jegliche Einschränkung. 

Die gute Nachricht der Grenzöffnung erreicht mich mitten im Wald. Das Mobiltelefon macht’s möglich.

Sollen wir also wirklich noch den Acker aufbessern und den Kompost vernünftig einfassen? Das Treppenhaus streichen, den Boden im Eingangsbereich legen, das Bad (*) renovieren? Die Hütte ganz fertig verfugen und eine Veranda drum herum bauen?

Während Tobi weiter macht, als wäre nichts, ist bei mir die Luft längst raus. Ich lenke mich ab durch Putzen, Wanderungen, neue Backversuche und Fotografie, Hörbücher und Kreatives. Wie wäre es denn mit dem Regal für die Hütte, das ich schon so lange bauen wollte? Oder die Lampe im Eingangsbereich? Nein, danke, dann doch lieber eine Runde auf dem Klavier klimpern. Emotional war es eine kleine Achterbahnfahrt; noch nie in meinem Leben gab es so viele konträre Empfindungen auf einmal: Trennungsschmerz und Wiedersehensfreude, Entspannung und Anspannung, Glück und dazu die Angst, dass die Türen sich plötzlich wieder schließen. Auch Tobi kommt bei meinen Planungsschwankungen kaum noch mit: heute – nichts wie weg hier! Und morgen: es klappt eh nicht, bleiben wir eben noch. Der Punkt ist nämlich, dass es im Winter keinen Direktflug zu unserem Ziel gibt und eben, dass es Winter ist… hier in Lappland sind wir darauf eingestellt, aber dort im Yukon hätten wir nicht einmal ein anständiges Dach über dem Kopf.

Also reiße ich mich zusammen und nehme die Dinge, wie sie sind: eine geöffnete Tür, durch die wir gehen werden, wenn wir bereit dafür sind. Ist es jetzt oder nie? Darüber kann ich nicht nachdenken. Nimm mir den Wind aus den Segeln, damit ich wieder ruhig sein kann! Mein Leben ist jetzt und hier.

Passend zu meiner Gemütslage und zur Jahreszeit fahre ich meine Arbeitszeit kontinuierlich runter. Die Tage werden nicht nur kürzer, sondern auch „fauler“ – was aber nicht heißt, dass ich weniger aktiv sein werde. Nur steht bei mir neuerdings das Wort „GENIEßEN“ ganz oben auf meiner To-Do-Liste! 

Am besten geht das für mich beim Laufen und erkunden. Öfter schnappe ich mir also Rucksack, Stativ und Kamera und gehe auf Entdeckungstour. Viele Wege hier kennen wir schon, aber längst nicht alle! Erst letztens fragt uns jemand, ob man sich hier verlaufen kann. Wir lachen – wohl kaum! Überall gibt es Wege und Straßen. Doch unerwartet abenteuerlich wird es, als ich mich dazu entschließe, einem neuen Waldweg zu folgen. Da er zwischen dem mir bekannten Weg und dem Flussufer liegt, kann theoretisch nichts schief gehen. Leider nur endet er in einer Sackgasse und ich beschließe, einem Wildwechsel zu folgen. Als das Dickicht im Wald immer undurchdringlicher wird, ändere ich meine Richtung und gehe dem Hauptweg zu. Zumindest versuche ich es, aber mein Weg führt durch ein altes Flussbett mit riesigen, runden und von Moos überwachsenen Flusssteinen. Sie sind glitschig und zum Teil wackelig. Als ich endlich durch bin, folgt noch mehr Dickicht. Also gehe ich weiterhin am alten Flussbett entlang durch den Wald auf eine Lichtung zu. Leider ist dort das Gras stellenweise so hoch wie ich. Aber an jeder Lichtung in Schweden muss es eine Schneise geben, die durch den Wald auf den Weg führt – denn irgendwann einmal wurde hier gerodet. Schließlich entdecke ich auf meiner Karte (eine App auf dem Mobiltelefon, das leider einen bedrohlich niedrigen Akkustanad anzeigt) eine kleine Schneise und steuere kontinuierlich darauf zu. Schnell schicke ich Tobi einen Screenshot, nur für alle Fälle… 

Kein Grund zur Panik – es besteht immer die Möglichkeit, dass Tobi mich suchen kommt. Ein verlässlicher Notfallplan, wenn einer von uns allein unterwegs ist: Wir sprechen uns ab, wo es hingeht und wann wir in etwa zurück sein wollen. Falls die Rückkehr nicht eintritt, begibt sich der andere auf die Suche. 

Es ist ein schmaler Pfad, der auf meiner Karte nur in der Satellitenaufnahme erkennbar wird, doch schon bald bin ich auf einem alten Waldweg und zu guter Letzt lande ich endlich dort, wo ich mich auskenne und sicher fühle: auf dem vertrauten Wanderweg. Überrascht bin ich aber schon, als ich sehe, wie weit ich eigentlich gekommen bin! Was sich in Wald und Busch angefühlt hat, wie eine ewig weite Strecke, war im Gesamtblick nur ein Katzensprung. Von dort aus, wo ich den Weg wieder betrete, bis zu dem Punkt, an dem ich ihn verlassen habe, liegt nicht mal ein Kilometer Wegstrecke. Unglaublich, was so ein Umweg ausmachen kann. 

In meinem Leben sieht es irgendwie ähnlich aus. Da sich Schweden zwar richtig anfühlt, doch aber aus unserer Sicht ein Umweg ist, kontaktiere ich meinen „Satelliten“ sehr oft und teile mal vorsichtshalber mit, wie die Lage aussieht. Gut zu wissen, dass es im Hintergrund einen gibt, der immer weiß, wo wir gerade stehen und wo es lang geht. 

(*für alle Langzeit-Leser dieses Blogs: ja, es handelt sich genau um das Bad, welches schon vor einem guten Jahr (**) dringend renoviert werden sollte…) (**für alle Lappland-Kenner: ihr wisst ja, wie das hier läuft, oder?)

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