Meine Freundinnen und ich treffen uns zum Abendessen. Anschließend machen wir eine Schneeschuhwanderung. Es ist acht Uhr, 20 Grad unter Null und ein Sternenklarer Himmel.
Hilda erklärt mir, dass die beiden hellsten Sterne, die wir sehen, Venus und Mars sind. Sie kennt fast alle Sternenbilder, zeigt mir die Zwillinge und den Stier. Immer mal wieder halten wir inne und schauen in den Sternenhimmel, aber nicht zu lange, damit die Füße nicht einfrieren. Wir sehen die Milchstraße und jede Menge wunderschöner Sternschnuppen. Kaum zu glauben, wie groß und lang sie zu sehen sind!
Die Winterkälte kam spät, der Schnee noch später und umso mehr genießen wir ihn. Die Tage sind kurz, aber da sich das Tageslicht immer nur um einige Minuten verkürzt, stellt sich meine innere Uhr schnell darauf ein. Genauer gesagt, geht sie einfach mit. Die schwierigste Zeit für mich sind immer die Tage nach der Zeitumstellung. Um 16 Uhr wird es Anfang November dunkel, doch nach der Winterzeit ist es von einem Tag auf den nächsten um 15 Uhr Zapfenstreich. Das fühlt sich einfach nicht richtig an und ich habe große Lust, schon am frühen Nachmittag Feierabend zu machen. Inzwischen geht es wieder. Unser Tagesrhythmus ist eingespielt: vor dem Frühstück werden die Öfen angeheizt, die Hühner versorgt und die Vögel gefüttert, nach dem Frühstück wird die Küche gemacht und aufgeräumt, dann geht es raus und sobald es dämmert, werden die täglichen Aufgaben erledigt.
Ich rappele mich tatsächlich nochmals auf, streiche die Leisten für Küche und Flur neu. Tobi geht richtig ab! Während meiner 10 Tage Familienbesuch in Deutschland rockt er das Haus. Ich komme heim und finde den Boden im Flur komplett neu mit Vinyl und Laminat ausgelegt. Sämtliche Leisten, sogar die Leisten für die Arbeitsfläche in der Küche, sind angebracht und die Lichterketten an den Bäumen leuchten.
Wir hatten eine schöne Zeit und so viel gelacht!
Er setzt noch eins drauf! Nach meiner Heimkehr hat er nur drei Tage, um das Wohnzimmer der Heimschulfamilie in unserem Gästehaus zu renovieren und um ihnen ein Schuhregal zu bauen. Das Ergebnis verschlägt mir die Sprache. In der wenigen Zeit hat Tobi zwei Holzwände lasiert und mit selbst hergestellten Leisten ausgebessert, die Glasplatte vor dem Ofen durch Restposten an Fliesen ersetzt, die alte, brüchige Backsteinmauer abgebürstet und verfugt und die Ofenrückwand verputzt und dann noch zwei alte Bänke mit Stauraum unter dem Sitz aus dem Schuppen geholt, um die ramponierten Polstermöbel zu ersetzen. Ganz nebenbei hat er den Brunnen und die Leitungen im Keller aufgetaut; durch den wenigen Schnee konnten die hohen Minustemperaturen überall hin durchdringen und da das Haus für einige Wochen leer stand, hat der Frost seinen Tribut gefordert. Allerdings glücklicher Weise ohne Folgeschäden – die Leitungen sind heil geblieben. Inzwischen hat Tobi an die Außenwand des Hauses und um die Wasserpumpe herum Schnee angehäufelt, damit eine bessere Isolierung besteht.
Die Tage bin ich recht viel mit mir selbst beschäftigt. Die Zeit in Deutschland hat mich nachdenklich gestimmt. Ich verarbeite alles auf den Langlaufskiern, hinter der Linse des Fotoapparats, mit einem guten Buch. Jetzt ist das Buch zu Ende und ich widme mich wieder meinem Norwegerpulli. In einigen alten Unterlagen finde ich einen Hand geschriebenen Stammbaum der Familie meines Vaters. Ich studiere die Namen und es kommen Fragen auf, die er mir beantworten kann.
Ich bekomme einen Einblick in das Dorfleben auf der Schwäbischen Alb, wie es früher war. Es fasziniert mich, das hat es schon immer! Das Leben meiner schwäbischen Großmutter hat Spuren auf mein Leben übertragen. Ich kannte sie nur für sieben Jahre, aber die Zeit mit ihr und die Erzählungen über sie inspirieren mich. Ihre ganze Art und alles, was sie gemacht hat. Meine Urgroßmutter starb bereits, als meine Oma Martha fünf Jahre alt war und mein Urgroßvater starb nur sieben Jahre später. Zusammen mit ihren drei Brüdern, ihrer Stiefmutter und -Schwester kümmerte sie sich um den Hof; die Kühe, die Hühner und den Nutzgarten. Als der Krieg ausbrach, waren die drei Frauen auf sich gestellt.
Ich kenne meine Oma Martha als gutmütige, unglaublich liebe alte Frau. In meinen Augen war sie hübsch mit ihren grauen Locken, ihrer Schürze und den Lachfalten im ganzen Gesicht. Selbst ihre knochigen Hände mit den zierlichen Fingern und den durchschimmernden Äderchen fand ich schön und ich dachte schon immer, dass jede Oma so aussehen und sein müsste wie sie und dass ich selbst auch mal so eine Oma sein will.
Das Leben, bevor es Mobiltelefone und Internet gab und bevor die Stadt riesige Einkaufszentren und Industriegebiete entwickelt hat, war meine Kindheit. Gemüse gab es aus dem Garten, Äpfel und Birnen von der Streuobstwiese, Kirschen vom eigenen Baum, Kartoffel von den familieneigenen Äckern und Süßmost und Apfelsaft aus der Dorfmosterei. Eingekauft wurde oft im dorfeigenen Lädle, damit man sich die Spritkosten in die Stadt sparen konnte. Dort wurden nur die wöchentlichen Großeinkäufe gemacht. Eier und Milch gab es beim Dorfbauern. Wir Kinder sind immer gern mit aufs ‚Äckerle’ gegangen, weil wir dort auf den Kirschbaum klettern konnten und ab und zu haben wir natürlich auch Kirschen genascht. Wir sollten beim Heu machen helfen – das war uns aber manchmal zu anstrengend. Zur Belohnung für das Heu wenden durften wir in die Heuhaufen springen oder auf dem Anhänger mit fahren. Wenn meine Mama mit mir an der Hand, beide in Latzhosen, zum ‚Äckerle’ gegangen sind, haben wir oft beim ‚Kirchlädle’ rein geschaut und ich durfte ein Päckle Waldmeisterbrause mitnehmen. Mein Papa hat damals eine Lehre zum Zimmermann in einem Familienbetrieb im Dorf gemacht. Das war schön, weil wir ihn oft besuchen konnten. Unsere Kindheit fand hauptsächlich draußen statt. Im Hof wurde Vestecken gespielt, wir sind auf den Skiern oder mit dem Schlitten den Hang runter gefahren, wir haben Häuslesfangi mit den Nachbarskindern gespielt, sind auf den „Ochsenboschen“ (eine große, alte Kletterbuche) geklettert, haben im ‚Wäldle’ ‚Lägerle’ gebaut, im Sommer draußen in einer Plastikwanne geplanscht, auf der Schwende (eine Anhöhe am Dorf) gegrillt. An den Wochenenden ging es meistens Wandern zum ‚Reißbrünnele’ (eine Quelle im Wald), zu den ‚Wildsauenbädern’ (zwei Ententümpel) oder zu den Schafen meiner Tante. Noch heute besitzt mein Vater ein kleines Waldstück mit Brennholz und Haselnusssträuchern. So gehörte auch das Holzmachen immer schon zu meinem Leben dazu: Holzscheite in die Schubkarre beigen, in den Keller bringen, aufstapeln. Ich glaube, dabei haben wir Kinder schon geholfen, als ich noch in den Windeln war.
Dieses ganze Leben kenne ich noch, zusammen mit dem Wechsel in die schnellere, industrielle und digitale Welt. Ich bin weit davon entfernt zu sagen, dass früher alles besser war! Ich weiß, dass es – im Gegenteil – wirklich hart gewesen ist, von der eigenen Landwirtschaft abhängig zu sein, noch dazu im Krieg und allein als Frau auf dem Hof. Nachdem mein Opa Schuhmacher geworden ist, war es für meine Großeltern definitiv einfacher. Sie konnten sich ein eigenes Haus bauen, haben auf Hühner und Kühe verzichtet und stattdessen eine Hasenzucht und einen kleinen Nutzgarten für den Eigenbedarf gehabt. Bis ich fünf war, haben wir in der Dachgeschosswohnung meiner Großeltern gelebt. Oft haben wir mit den Babyhäschen gespielt… Jeden Sonntag gab es (Hasen-)Braten und viele verschiedene Salate, vor allem Kartoffelsalat, Spätzle und Soße. Immer, wenn mein Bruder und ich wussten, dass ein Hasenbraten auf dem Tisch stand, haben wir an dem Tag vegetarisch gegessen… Bei meiner Oma gab es auch dieses leckere, dunkle Bauernbrot, das sie im Backhaus regelmäßig zusammen mit anderen Frauen aus dem Dorf gebacken hat. Oft hat sie für uns Kinder am Nachmittag ein Brot mit viel Butter und leckerem Honig drauf geschmiert. Abends gab es dasselbe Brot mit Fleischwurst und Senf und meistens eine kleine Partie „Mensch-ärgere-dich-nicht“ mit dem Opa. Da meine Eltern beide gearbeitet haben, verbrachten wir Kinder sehr viel Zeit mit meinen Großeltern. Den Kindergarten mochte ich nicht! Ich mochte die Nachbarskinder, die kannte ich und mit denen konnte ich draußen spielen oder heim gehen, wann immer ich wollte. Im Kindergarten waren wir künstlich in Spielräumen untergebracht, mir waren das zu viele Regeln, viel zu viele Kinder und viel zu doofe, angeleitete Spiele im Stuhlkreis. Ich habe mich gedrückt, sooft ich konnte und meine Oma wusste das. Sie hat mich nie verpetzt, wenn ich statt in den Kindi allein zum Spielen ins Wäldle gegangen bin…
Als wir ins damalige Neubaugebiet des Dorfes gezogen sind, wo mein Vater für uns ein großes Haus gebaut hat, haben wir Kinder uns kleine Apfelbäume und einen Kirschbaum gewünscht. Für uns war das die Möglichkeit, eine Art Schlaraffenland zu bekommen: Früchte, die gerade so hoch über dem Boden wachsen, dass wir sie einfach von den Ästen pflücken können, wie es uns gerade passt.
Inzwischen hat mein Vater in einer Fabrik in der Stadt gearbeitet. Bald nach dem Umzug kam ich in die Schule, nur wenige Monate später kam mein jüngerer Bruder zur Welt und noch ein Jahr später, kurz vor Weihnachten, starb meine Oma. Für meinen älteren Bruder und mich war das ein sehr schmerzhafter Bruch und mein Opa war danach nicht mehr derselbe. Überhaupt schien die ganze Welt nicht mehr wirklich dieselbe zu sein.
Umso näher fühle ich mich heute wieder meiner Oma, wo ich selbst Hühner und einen Nutzgarten habe und mein eigenes Brot im Holzofen backe. Ich fühle mich den Sternen so nah in unserem Leben hier, das wir selbst gestalten. Ich entwickle meine Träume weiter, definiere meine Ziele genauer und habe die Zeit und die Freiheit, ihnen Schritt für Schritt näher zu kommen, was mich sehr glücklich macht. Dabei geht schon ein Wunsch in Erfüllung: nämlich der, das Leben und jeden Augenblick mehr zu genießen und zwar so, dass keine Zeit für unnötige Grübeleien bleibt.
Heute ist Weihnachten, der dritte Weihnachtsfeiertag. Heute vor über 30 Jahren hatten wir das erste Weihnachten ohne meine Oma erlebt. Wir haben meinen Opa besucht, es gab sogar einen Weihnachtsbaum mit Geschenken für die Enkelkinder darunter – meins war ein weißer Plüsch-Teddy von Steiff, Ich habe ihn heute noch, nur leider brummt er nicht mehr, wenn man auf seinen Bauch drückt; wahrscheinlich war er zu oft in der Waschmaschine…
Was meine schwäbischen Großeltern wohl zu meinem Leben in Lappland sagen würden? Ich glaube, sie wären stolz auf mich und ich denke, ich könnte noch sehr viel mehr von ihnen lernen über das einfache Leben und zum Beispiel darüber, warum man als Schwabe besser Spätzle mit Soße essen sollte statt Spaghetti mit Tomatensoße…ob es irgendwann in meinem Stammbaum vielleicht doch mal Italiener gab…???
Heute, am Vormittag des dritten Januars, sitzen wir im warmen Wohnzimmer, der Ofen läuft, es hat 22 grad plus und draußen 20 Grad minus und ich stelle endlich diesen Blogeintrag fertig. Unter dem Vogelfutterbaum jagen sich drei Eichhörnchen um die Wette und die Meisen tummeln sich an den Futterquellen. In den Birken sitzen schwarze Birkhühner und zupfen an den Früchten während sie Mühe haben, die Balance auf den dünnen Zweigen zu halten. Nur knapp zwei Wochen nach der Sonnwende steht die Sonne so hoch über dem Berg, dass sie den schneebedeckten Boden unseres Grundstücks streift und ihn in dieses wunderschöne, golden schimmernde Licht taucht. Nachdem Tobi und ich etwas über unsere weiteren Ziele, Vorsätze und Pläne sinniert haben, lassen wir jetzt diesen Moment auf uns wirken, bevor wir in den neuen Tag unter dem Nordhimmel starten.