Abgeschlossene und offene Kapitel

Still und tröstend liegt der See am Abend des 15. Mai vor mir. Die Ruhe nach dem Sturm. Regentropfen hängen in den frischen Blättern, sie fallen ins Wasser und mit dem Aufprall entstehen Kreise, die sich wellenförmig nach außen bewegen. Nebel steigt auf und breitet sich über dem Wasser aus. Ein paar Enten lassen sich hineingleiten und tauchen einen Moment später wieder auf.

In diesem kostbaren Moment fühle ich mich geborgen und getragen, langsam weichen Trauer und Wut, geben Raum für Frieden und Dankbarkeit.

Das ist nun mein dritter Anlauf für diesen Blogeintrag. Ein Kapitel in unserem Leben wurde so abrupt und brutal abgeschlossen, dass ich kaum darüber schreiben kann. Schock und Schmerz sitzen noch viel zu tief aber ich nenne es nun beim Namen: Unsere Katze Xena ist tot; überfahren.

Die Ereignisse in den Wochen zuvor lagen für mich eine Zeit lang wie im Dunkeln. Ich habe versucht, sie durch Fotos zu rekonstruieren, doch es war zu schmerzhaft. Alle Ereignisse direkt zwei Wochen nach dem Unfall erlebe ich wie im Nebel und ich funktioniere wie auf Autopilot. Daher wird dieser Blogeintrag mit Sicherheit Lücken aufweisen, aber eine grobe Zusammenfassung versuche ich nun.

Im April beschäftigen Tobi und mich zwei unterschiedliche Dinge: Tobi befasst sich mit dem Hausverkauf und der Zukunftsplanung und ich verliere mich fast in den Themen der Vogelfotografie. Birden wird zu meinem neuen Hobbie, während Tobi fleißig Kontakte zu Interessenten hält. Das Sägewerk läuft immer noch viel für das Saunadach, mehrere Bäume werden noch gefällt und ich probiere neue Filmtechniken aus. Es ist sehr spannend für mich, dass es nicht mehr nur darum geht, etwas auf Band zu haben – sondern vordergründig darum, wie ich es aufs Band bringe. Ich schaue mir Tipps und Tricks auf YouTube an und probiere sie aus. Tobi freut sich über die Ergebnisse. Außerdem baue ich ein paar Nistkästen und wir bringen Bretter unter dem Dach an, damit die Schwalbennester in diesem Jahr nicht wieder abstürzen, noch bevor sie gebaut wurden.

Das Saunadach konstruiert Tobi fast allein, aber ich darf beim Decken helfen. Eine kleine Überwindung kostet es mich, denn ich bin nicht ganz frei von Höhenangst.

Ein paar Wochen Ende April und Anfang Mai fühlen sich an wie im Hochsommer – nur besser, denn sie sind absolut mückenfrei! Die Sonne schenkt eine sehr angenehme Wärme von etwa zwanzig Grad. Fast ist der Schnee komplett weg, bis auf wenige Häufchen. Viele Pfützen haben sich gebildet, in denen sich Bachstelzen baden. Sie scheinen jede Menge Spaß dabei zu haben.

Etwas sehnsüchtig warte ich auf den Kuckuck, aber ich höre ihn immer nur von weit her.

Noch intensiver als in den Jahren zuvor beobachte ich das Verhalten der Vögel auf unserem Grundstück. Ich schaue nach ihren Nestern und ich wünschte, ich hätte mir Notizen gemacht. Scheinbar endlos sind die beiden Tauerschnäpperpaare mit dem Nestbau beschäftigt. Eines der Bachstelzennester wurde augenscheinlich vom Eichhörnchen ausgeraubt. Tatsächlich hängt sogar der Falke eines Morgens an der Hauswand des alten roten Schwedenhauses und versucht, an die Nester hinter der Fassade zu kommen. Wenig später sehe ich aber doch junge Bachstelzen auf unserer Wiese. Ich bin mir sicher, dass es hier mindestens zwei ihrer Nester gab. Die Blaumeisen mussten ihr Nest nochmals umsiedeln. Das hatte ich mir fast gedacht! Ihr Nest wollten sie gerade dort bauen, wo wenige Tage später die Schwalben Einzug halten würden – wie bislang in jedem Jahr. Das konnte nicht gutgehen und daher hatte ich auch für sie einen Nistkasten direkt nebenan angebracht; allerdings haben sie sich trotzdem ein Nest in einer nahe gelegenen Baumhöhle gesucht, nachdem sie von den Schwalben vertrieben worden waren. Damit es euch bei meiner neuen Begeisterung für unsere gefiederten Freunde nicht langweilig wird, unten nun eine Übersicht in Fotos.

Neben den Ausflügen, die Tobi und ich mit Kameras und Fotoausrüstung unternehmen, gibt es tatsächlich noch ein Leben. Eine junge und unternehmungslustige Familie aus dem Odenwald kauft unseren Hof und wir planen den Bau eines Tiny Hauses. Außerdem halten wir nach einem Grundstück Ausschau, auf das wir dieses stellen könnten. Direkt nach der konkreten Kaufzusage treffen wir Mikael, der uns in diesem Jahr Brennholz liefert. Was uns zunächst amüsiert und später frustriert: wie es sich in unserem ersten Gespräch herausstellt, ist er der Besitzer des Grundstückes, auf das wir schon vor Langem ein Auge geworfen hatten – eher nur zum Spaß. Aber beim Vorbeifahren haben wir oft gesagt: oh, dieser schöne Hof, diese tolle Lage! Wie viel mehr Licht wir dort hätten. Allerdings, obwohl der Zufall ja echt witzig ist, gibt es leider viel zu viele Haken an dem Grundstück. Es ist zu groß, zu sumpfig, viel zu viele halb verfallene Gebäude, wir hätten direkte Nachbarn, die allerdings nicht immer da wären und das größte Hindernis: Das Grundstück muss zuerst geteilt und neu vermessen werden. Das macht natürlich den an sich niedrigen Hektarpreis recht teuer. Da wir dazu noch die alten Gebäude abbrennen müssten, damit es uns dort oben auch wirklich gefällt, halten wir doch lieber Abstand. Schön sind unsere Entdeckungstouren dorthin trotzdem! Und spannend, denn an einem kleineren Bach stehen Bäume und Büsche und es wimmelt nur so von Vögeln! Turmfalken nisten im Dach des alten und halb zerfallenen Haupthauses. In einem Busch turteln zwei Seidenschwänze und als es Abend wird, tummeln sich jede Menge Auerhähne auf der angrenzenden Wiese zur Balz. Was für ein Vogelparadies! Wo wir wieder beim Thema Fotografie wären, während das Kapitel der Grundstückssuche weiterhin offen bleibt.

Unser Flug nach Kanada war eigentlich für den 24. Juni gebucht. Warum jetzt also der ganze Stress mit dem Tiny Haus, Grundstück und Co? Das Kapitel Auswandern nach Kanada ist immer noch nicht dran. Ich hatte ja kurz mal im Oktober das Gefühl, wir müssten nun unbedingt gleich über den großen Teich fliegen. Im Dezember hatte ich dann meinen Frieden mit dem Hierbleiben gemacht: Aleesha erschien uns plötzlich zu alt zum Fliegen. Tatsächlich haben wir jetzt mehr denn je das Gefühl, dass sie einen Flug nach Kanada höchstwahrscheinlich nicht überstehen würde. Daher ist für uns klar: bis auf Weiteres bleiben wir in Schweden.

Warum wir den Hof aber trotzdem verkaufen? Natürlich wäre es auch schön, noch in aller Ruhe ein oder zwei Winter hier zu verbringen. Aber durch den Verkauf haben wir das Kapitel abgeschlossen und sind somit flexibler, was unsere Abreise betrifft.

Eine Zeit lang sind all diese Überlegungen für mich völlig hinfällig. Der 15.Mai hat meine Welt ins Wanken gebracht. Achtung, vorweg eine Triggerwarnung: Es ist durchaus möglich, dass die abschließende Nacherzählung bei dem Einen oder Anderen Tränen auslösen kann.

Ich stehe in der Küche und bin dabei, das Abendessen vorzubereiten. Es war ein erfolgreicher Arbeitstag: eine Seite des Daches ist gedeckt. Tobi kommt rein und ich merke sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Was kann es nur sein, wenn er weint? Das macht er doch nie! Und dann sagt er etwas, das zunächst keinen Sinn ergibt. „Der Fahrer, der den Waldweg gerichtet hat, ist gerade vorbei gekommen und hat gesagt….es geht nicht… ich kann nicht…“ Aha, denke ich, aber ich kapiere nichts. Erst atmet Tobi nochmal durch, dann sagt er: „Eine tote Katze liegt auf der Straße.“ Und sofort ist klar – das kann nur Xena sein – aber ich will es nicht glauben.

Ich sitze auf der Treppe und schluchze. Tobi geht zur Straße, um sie zu holen. Es ist besser wenn ich hier bleibe, das hat er mir gesagt und das weiß ich auch. Ich schreie und heule gegen den Wind an, der gerade so plötzlich und heftig eingesetzt hat, wie ein Sturm. Es weht Gartenstühle um mich herum. Ich wische die Tränen ab und sammle sie ein, um sie ins Haus zu bringen. Das ist gut, das hilft mir, meine Fassung wieder zu gewinnen. Doch dann kommt Tobi. Er hält sie auf seinem linken Arm und mit dem rechten deckt er sie zu. Ich darf ihr Gesichtchen nochmal sehen, den Rest hält er vor mir verborgen und ich bin dankbar dafür. Sie sieht anders aus. Ihr Blick ist leer und Blut klebt an ihrem Schnäuzchen. Ich weine bitterlich. Oh Xena, nein, meine Xena!

Wie Nebel über einem See, so liegt ein dunkler Schleier über den Ereignissen der letzten Wochen. Der plötzliche und völlig unerwartete Tot unserer Katze Xena überschattet alles.

„Trauer ist die Brücke zur Liebe, die in der Erinnerung zu etwas Kostbarem und Ewigem wird.“ Monika Minder

Unsere Xena auf diese Art zu verlieren, so plötzlich und tragisch, ist für uns wie ein Schock. Täglich kämpfe ich mit mir. Ich habe die Möglichkeit, mich in Trauer zu verlieren oder Trost im Gebet und in der Natur zu suchen. Zu häufig entscheide ich mich für die dritte Alternative: die Ablenkung. Tobi verbringt viel Zeit unterwegs und somit ist es einfach, um vier Uhr nachmittags Feierabend zu machen, einen Film einzuschalten und ein Glas Wein zu trinken. Es ist einfacher, als das Fahrrad zu schnappen und los zu fahren! Aber auch das mache ich manchmal. Dafür benötige ich allerdings zunächst einmal einen Tritt in den Hintern. Viel zu häufig fehlt mir für diesen Selbstantrieb die Kraft. Ich lasse mich fallen. Alles, was passiert, geschieht so, als stünde ich neben mir. Ich funktioniere wie auf Autopilot, bei Freunden zu Besuch, beim Zähneputzen oder im Chor. Es erscheint mir nichts mehr real, sondern alles durch diesen Schleier, wie eine Traumwelt. Ich weiß, so hatte ich mir das nicht vorgenommen. Der Plan war eher, sich Wanderschuhe und Zelt zu schnappen und dann nichts wie weg. So ungefähr hätte es Xena gemacht. Wenn ihr etwas nicht gepasst hat, war sie auf und davon. Der Sog meiner Abwärtsspirale wirkt allerdings stark und schnell. Morgens bin ich müde und so fehlt mir jegliche Kraft für Aktivitäten. Ich schleppe mich durch den Tag, erledige das Allernötigste und am Abend bin ich zu müde für eine Wanderung. Etwas mehr als zwei Wochen hat dieser Zustand gedauert. Inzwischen habe ich mich wieder gefangen, denn an einem Punkt war klar: wenn es so weitergeht, fehlt mir am Ende noch die Power für den Tritt in den eigenen Hintern. Ich trinke also Tee, lasse die Trauer am Abend und Morgen zu, finde Trost in Lobpreisliedern, schließe das Weinen ab mit schönen Gedanken und im Gebet. Der Tag bringt automatisch die Ablenkung durch seine Aufgaben und obwohl ich traurig bin, kann ich bewusst lachen, genießen und arbeiten. Ich empfinde sogar echte Freude dabei. Abends schnappe ich mir Fahrrad oder Wanderschuhe und ab geht’s. Ich kann endlich durchschlafen und fühle mich sehr bald wieder fit und ausgeruht.

Manchmal allerdings, in Anbetracht all dessen, was wir hier leisten nur um es zu verkaufen, ist mir tatsächlich zum Davonlaufen. Das Chaos, der Trubel und die Aufbruchstimmung sind gefährliche Komponenten. So ungefähr muss es Xena gegangen sein, als sie vor circa sechs Jahren in den Wald gezogen ist. Zu der Zeit waren Tobi, Aleesha und ich schon für ein Work-and-Travel-Jahr in Kanada. In unserem Haus waren zwei kleine Findelkatzen eingezogen, die Xena nicht mochte. Sie kam also ohnehin nur noch selten ins Haus. Als dann noch unsere Kollegen und Housesitter anstelle von uns dort gewohnt haben, muss ihr das den Rest gegeben haben. Sie kam irgendwann nicht mehr. Auch nicht dann, als wir wieder zu Hause waren. Über ein Jahr lang haben wir im Wald nach ihr Ausschau gehalten und sogar nach ihr gerufen. Eines Tages war mir der Gedanke an meine vermisste Katze zu schwer geworden. Ich wollte mit diesem Kapitel abschließen. Daher habe ich mir eingeredet, dass Xena ein neues zu Hause hat und nie mehr zurück kommen wird. Zur selben Zeit, ich war gerade mit Aufräumen beschäftigt, hab ich dieses Loblied angehört; „Der Herr tut heute noch Wunder“ und ich dachte so, was wohl mein Wunder heute sein soll. Später hatte ich noch einen Arzttermin. Im Wartezimmer kam plötzlich eine Bildnachricht von Tobi, mit einem Foto, das mangels mobiler Daten nicht richtig laden wollte. Es sah aber aus wie ein kleines Tier im Gras, eine Katze oder vielleicht ein Hase? Doch was unter dem Bild stand, hat mir die Wartezeit auf meinen Termin fast unerträglich gemacht: „Du wirst nicht glauben, wen ich gefunden habe!“ Das konnte unmöglich stimmen. Ich musste das einfach so schnell wie möglich sicher wissen! Nach meinem Termin wurde mein Verdacht bestätigt; mit genügend Empfang konnte ich die Bilddatei öffnen und mit eigenen Augen das Unglaubliche sehen: dort im Gras saß Xena. Obwohl ich eigentlich noch meinen Unterricht für den kommenden Tag an der Schule vorbereiten wollte, bin ich sofort nach Hause gefahren.

Es war tatsächlich so! Xena war nach über zwei Jahren zurück. Tobi hatte sie gefunden, als er mit Aleesha unterwegs war. Unfassbar! Ein Wunder! Er war an einer weit abgelegenen Lichtung unterwegs, die wir vorher noch gar nicht kannten. Als er so mit Aleesha durch das Gras lief, hat er eine Katze gesehen. Die war schon dabei, wegzulaufen. Auf gut Glück hat er nach Xena gerufen und prompt blieb die Katze stehen, drehte sich um und lief direkt auf Tobi und Aleesha zu. Was sie wohl alles erlebt hat und wie hat sie sich durchgeschlagen? Darüber können wir nur Vermutungen anstellen. Xena ist zurück, sie kuschelt viel, schläft viel und frisst viel. Eine Figur hat sie wie eine Löwin; sehnig, drahtig, muskulös – eine derart zähe Katze habe ich noch nie gesehen. Neuerdings liebt sie Höhlen! Egal was – eine Decke, eine Box, eine Schublade – Hauptsache, sie kann hineinkriechen und sich darin verstecken.

Die verlorene Katze Xena. Der Name passt perfekt: eine echte Kämpferin, mutig, die Lebensfreude pur, leidenschaftliche Jägerin, gleichermaßen verschmust wie hoheitlich. So lebendig und lebenslustig wird sie uns in Erinnerung bleiben. Im Garten waren wir in Sachen Schädlingsbekämpfung ein großartiges Team! Was sie schon alles erlebt hat, mit und ohne uns, darüber ließe sich ein Buch schreiben. Wir blicken voll Dankbarkeit auf die Zeit zurück, die wir mit dieser ganz besonderen Katze an unserer Seite haben durften. Für uns lebt sie weiter! In unseren Herzen, in unserer Erinnerung, und irgendwo in einer anderen, unergründlichen Ewigkeit, wild und frei und wunderbar.

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